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Unverschuldeter Verzug bei Angebotsabgabe führt nicht zum Ausschluss
VK Baden-Württemberg, 1 VK 51/16 vom 30.12.2016*)
Amtlicher Leitsatz: Lässt die Vergabestelle die Einreichung von Angeboten ausschließlich über eine an das Internet angebundene Plattform zu (E-Vergabe) und ist es einem Bieter – aus Gründen die allein aus der Sphäre der Vergabestelle stammen – unmöglich und unzumutbar, sein Angebot nur der Form nach rechtzeitig abzugeben, darf das Angebot deswegen nicht ausgeschlossen werden.
Die Vergabestelle hat den elektronischen Zugang zu ihrem Vergabeverfahren derart auszugestalten und wie einen offenen Brief-kasten zur Verfügung zu halten, so dass sich auch Bieter ohne eigene IT-Abteilung schrankenlos beteiligen können.
Die Vergabekammer hatte über den zwingenden Ausschluss eines Angebotes nach § 16 EU Nr. 1 VOB/A zu entscheiden, das bei Ablauf der Angebotsfrist zwar inhaltlich vorlag, nicht aber wie gefordert über eine Internet-Plattform übermittelt wurde.
Die Auftraggeberin schrieb die Oberflächenabdichtung eines Müllabladeplatzes europaweit aus. Alleiniges Zuschlagskriterium war der Preis. Angebote durften ausschließlich elektro-nisch bis zum 27.10.2016, 10:00 Uhr, eingereicht werden. Die Bieter hatten dafür eine softwarebasierte Plattform zu nutzen. Die Antrag-stellerin und die Beigeladene reichten jeweils ein Angebot ein. Auf eine Bieternachfrage antwortete die Auftraggeberin, dass ausschließlich eine elektronische Angebotsabgabe mit qualifizierter Signatur zulässig ist.
Die Beigeladene reichte ihr Angebot am 27.10.2016, um 9:56 Uhr, als Anhang zu einer E-Mail und erst um 14:34 Uhr erneut über die Internetplattform ein. Sie hatte ihr Angebot schon am 25.10.2016 in einem Testlauf mit einer Signatur versehen. Am 26.10.2016 ab 17:00 Uhr hatte sie mehrfach versucht, das vollständige Angebot an die Internet-Plattform zu übermitteln, aber nur Fehlermeldungen über die Nichterreichbarkeit des Servers erhalten. Der telefonische Kundendienst der Plattform sei nicht erreichbar gewesen. Am 27.10.2016 versuchte sie ab 8:45 Uhr erneut vergeblich, ihr An-gebot über die Internet-Plattform zu übermitteln. Schließlich erreichte sie den Kundendienst der Internet-Plattform telefonisch, der das Problem nicht beheben konnte. Erst nach Einschaltung einer höheren Kundendienstebene um 13:39 Uhr konnte die Beigeladene ihr Angebot auch über die Internet-Plattform übermitteln.
Die Auftraggeberin öffnete sämtliche Angebote, auch den Anhang zur E-Mail, am 27.10.2016 um 15:15 Uhr. Anschließend teilte sie der Antragstellerin mit, dass das Angebot der Beigeladenen wie ein rechtzeitig eingegangenes Angebot bei der Angebotswertung berücksichtigt werde. Nach vergeblicher Rüge beantragte die zweitplatzierte Antragstellerin die Nachprüfung mit dem Ziel, das Angebot der Beigeladenen als verfristet auszuschließen.
Nach Ansicht der Vergabekammer Baden-Württemberg ist der Antrag unbegründet, da die Auftraggeberin das Angebot der Beigeladenen berücksichtigen musste. Das Angebot sei weder gemäß § 16 EU Nr. 1 VOB/A noch wegen Verstoßes gegen das Erfordernis des Geheimwettbewerbs auszuschließen.
Zwar seien Angebote, die bei Ablauf der Angebotsfrist nicht vorgelegen haben, zwingend ge-mäß § 16 EU Nr. 1 VOB/A auszuschließen. Ein solcher Fall liege aber nicht vor, da der vorlie-gende Lebenssachverhalt nicht in den Anwen-dungsbereich des § 16 EU Nr. 1 VOB/A falle.
Auch wenn die Beigeladene ihr Angebot erst am 27.10.2016 um 14:34 Uhr über die Internet-Plattform übermittelt habe, d.h. rund viereinhalb Stunden nach Fristablauf, so habe sie es dennoch innerhalb der Frist abgegeben. Dies sei zwar nicht in der dafür vorgesehenen Form geschehen. Jedoch habe die Beigeladene der Auftraggeberin um 9:56 Uhr erfolgreich eine E-Mail übermittelt, deren Anhang ihr Angebot enthalten habe. Der Inhalt dieses Anhangs und das um 14:34 Uhr auf der Internet-Plattform einge-reichte Angebot seien identisch. Dieses Angebot habe die Beigeladene auch wie vorgegeben elektronisch übermittelt, nur nicht unter Nutzung der dafür von der Vergabestelle vorgesehenen Internet-Plattform.
Dieser Fall sei nicht ausdrücklich in der VOB/A geregelt. Dem Wortlaut nach unterscheide § 16 EU Nr. 1 VOB/A nicht zwischen Form und Inhalt der Angebote.
Nach Sinn und Zweck des § 16 EU Nr. 1 VOB/A – so die Vergabekammer – dürfe ein nicht recht-zeitig vorliegendes Angebot nicht ausgeschlos-sen werden, wenn die Ursache dafür, dass ein Bieter sein Angebot auch der Form nach auf der einzigen dafür bereitgestellten Internet-Platt-form nicht rechtzeitig abgeben könne, allein dem Auftraggeber zuzurechnen sei.
Hier habe die Auftraggeberin von allen Bietern gefordert, Angebote ausschließlich über die angegebene Internet-Plattform einzureichen. Wenn es für die Beigeladene wegen Umständen, die ausschließlich im Einflussbereich der Auftraggeberin liegen, unmöglich gewesen sei, ihr Angebot form- und fristgerecht einzureichen, würde sie in nicht hinnehmbarer Weise im Vergleich zu anderen Bietern benachteiligt, denen die elektronische Übermittlung des Angebots technisch möglich gewesen sei. Träten techni-sche Schwierigkeiten beim Betrieb der von der Vergabestelle verwendeten elektronischen Mit-tel auf, so seien die Folgen danach zu beurteilen, wessen Sphäre sie entstammten. Schwierigkeiten auf Auftraggeberseite dürften nicht zu Lasten des Bieters gehen. Daraus folge dann zwingend, dass das Angebot der Beigeladenen gemäß § 16 EU Nr. 1 VOB/A bei unterstellten technischen Problemen ausschließlich aus der Sphäre des Auftraggebers nicht ausgeschlossen werden dürfe.
Ein sachgerechter Ausgleich durch die Gesamtrechtsordnung in Gestalt von Schadensersatz-ansprüchen sei demgegenüber nicht gleichwertig. Denn ein etwaig im Klageweg durchzuset-zender Anspruch stünde vor erheblichen Hür-den. Zudem würde die Beigeladene ihr Ziel – den Zuschlag – nicht erreichen. Die erfolgreiche Durchführung eines Vorhabens werde nicht durch den dadurch erzielbaren geldwerten Vorteil aufgewogen.
Richtig sei, dass ein Bieter die für die Übermitt-lung benötigte Zeit vorab in Erfahrung bringen müsse und diese bei der Angebotsabgabe einzuplanen habe. Er trage das Übermittlungsri-siko. Das sei hier aber nicht der Fall gewesen. Der Beigeladenen sei es vielmehr unmöglich gewesen, das Angebot rechtzeitig in der dafür vorgesehenen Form abzugeben, und zwar aus Gründen, die allein die Auftraggeberin zu verantworten habe. Nach den § 11 VgV und § 11a EU VOB/A habe die Auftraggeberin die von ihr gewählten elektronischen Mittel zum Zugang zum Vergabeverfahren so vorzuhalten, dass diese eine Teil-nahme am Verfahren in keiner Weise ein-schränken. Die Bieter müssten sich ohne finan-ziellen und zeitlichen Aufwand mit der Vergabestelle austauschen können. Lasse die Auftraggeberin Angebote ausschließlich über eine be-stimmte Internet-Plattform zu, habe sie dafür zu sorgen, dass diese Plattform wie ein Briefkas-ten oder eine Annahmestelle bis Fristablauf ohne Weiteres zu erreichen sei. Komme sie die-ser Pflicht nicht nach, verstoße sie gegen bieterschützendes Vergaberecht.
Unterstelle man, dass die Auftraggeberin den elektronischen Zugang für einen Bieter verga-berechtswidrig ausgestaltete und würde man das Angebot dieses Bieters gemäß § 16 EU Nr. 1 VOB/A von der Wertung ausschließen (müs-sen) und den Bieter auf etwaige Schadensersatzansprüche verweisen, beschränkte dies den europarechtlich determinierten und in der Rechtsmittelrichtlinie 2007/66/EG vorgesehe-nen Primärrechtschutz desjenigen Bieters, zu dessen Lasten gegen Vergaberecht verstoßen wurde. Dies verstieße gegen Unionsrecht, sodass das Angebot der Beigeladen bei unionskonformer Auslegung des § 16 EU Nr. 1 VOB/A jedenfalls dann nicht auszuschließen sei, wenn die Vergabestelle den elektronischen Zugang vergaberechtswidrig ausgestaltet habe.
Zur Überzeugung der Vergabekammer steht fest, dass es der Beigeladenen mit zumutbarem Aufwand in der Zeit zwischen dem Nachmittag des 26.10.2016 und dem 27.10.2016, 13:39 Uhr, unmöglich gewesen ist, ihr Angebot formgerecht bei der Auftraggeberin einzureichen. Dies sei allein der Auftraggeberin zuzurechnen. Die Beigeladene habe rechtzeitig mit der Übermittlung des Angebots begonnen und frühzeitig den Kundendienst der Internet-Plattform eingeschaltet. Selbst diesem sei es nicht möglich gewesen, die Fehlerquelle zeitnah zu ermitteln. Anlass, die eigene IT-Abteilung einzuschalten, habe die Beigeladene danach nicht gehabt. Sie habe all das unternommen, was von einem Bie-ter erwartet werden könne. Vor allem habe aber die Auftraggeberin den elektronischen Zugang derart auszugestalten, dass sich auch Bieter ohne eigene IT-Abteilung schrankenlos beteiligen könnten. Bei dieser Sachlage seien schon die tatbestandlichen Voraussetzungen für einen zwingenden Ausschluss gemäß § 16 EU Nr. 1 VOB/A nicht erfüllt.
Ob anderes gelten müsste, wenn das Angebot nicht unstreitig dem Inhalt nach fristgemäß vorgelegen hätte, musste die Vergabekammer nicht entscheiden.
Die Vergabekammer sieht auch keinen Verstoß gegen den Geheimwettbewerb. Dieser sei dann gestört, wenn ein Bieter in Kenntnis des Ange-bots oder Teilen des Angebots eines anderen Bieters sein Angebot abgebe. Ein Verstoß liege aber nur vor, wenn durch diese Information das Angebot des Bieters beeinflusst worden sei. Das sei hier nicht der Fall. Alle Angebote – auch der Anhang zur E-Mail von 9:56 Uhr – seien ein-heitlich um 15:15 Uhr geöffnet worden. Damit sei eine Beeinflussung anderer Angebote aus-geschlossen.
Quelle: Forum Vergabe, Monatsinfo 04/2017